Wolfram Hannemann
Filmkritiker / Freelance Journalist / Filmemacher

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Freitag, 30. Juli 2021
Der amerikanische (Alb)Traum
Heute mal ein außergewöhnlicher Nachsitztermin – im Open Air Kino!

MINARI – WO WIR WURZELN SCHLAGEN (1:2.35, 5.1)
OT: Minari
Verleih: Prokino (Studiocanal)
Land/Jahr: USA 2020
Regie: Lee Isaac Chung
Darsteller: Steven Yeun, Yeri Han, Youn Yuh-jung
Kinostart: 15.07.2021

Jacob und Monica, koreanische Einwanderer, ziehen mit ihren Kindern David und Anne nach Arkansas, wo David mit eigenen Händen eine Farm aufbauen und bewirtschaften möchte. Um ihren Traum finanzieren zu können, jobben die Eheleute tagsüber in einer Geflügelfabrik. Als auch noch Monicas Mutter bei ihnen einzieht und David sein Zimmer mit ihr teilen muss, liegen bereits die ersten Spannungen in der Luft. Erst ganz langsam nähern sich der kleine Junge und seine Oma einander an... Inspiriert von seiner eigenen Kindheit in Arkansas erzählt der koreanisch-stämmige Filmemacher Lee Isaac Chung die Geschichte einer koreanischen Einwandererfamilie, die ihren eigenen amerikanischen Traum verwirklichen möchte. Der Reigen aus Höhen und Tiefen, die die Familie letztlich vor eine Zerreißprobe stellt, wird zumeist aus der Sicht des kleinen David geschildert, den jeder neue Tag mit neuen Abenteuern konfrontiert. Chungs Film ist exzellent besetzt, großartig fotografiert (Lachlan Milne) und mit schöner Filmmusik (Emile Mosseri) unterlegt. Ruhig und sehr gefühlvoll erzählt liefert Chung hier einen willkommenen Kontrast zum Hollywood’schen Bombast-Kino. Der symbolisch zu verstehende Titel des Films bezieht sich auf ein koreanisches Gewürz, “Minari” oder Wasserkresse, dessen herausragende Eigenschaft es ist, überall Wurzeln zu schlagen, wo auch immer man es anbaut.
Mittwoch, 28. Juli 2021
Das Leben schön trinken
Nachsitztermin: heisse Oscar-Ware aus Dänemark

DER RAUSCH (1:2.00, 5.1)
OT: Druk
Verleih: Weltkino
Land/Jahr: Dänemark 2020
Regie: Thomas Vinterberg
Darsteller: Mads Mikkelsen, Maria Bonnevie, Thomas Bo Larsen
Kinostart: 22.07.2021

Vier Gymnasiallehrer und beste Kumpels in ausgeprägter Midlife-Crisis unterziehen sich einem gewagten Experiment: nach der Theorie des norwegischen Philosophen Finn Skarderud wird der Mensch mit 0,5 Promille Blutalkohol zu wenig geboren. Folglich sollte der regelmäßige Konsum von Alkohol dieses Problem beseitigen und gleichzeitig die Lebensfreude steigern. Zur Überraschung aller liefert das Experiment sehr positive Ergebnisse. So positiv, dass sich das Quartett dazu entschließt, den Alkoholpegel weiter zu erhöhen. Mit (un)absehbaren Folgen... Thomas Vinterbergs mit dem Auslands-Oscar bedachter Film gelingt ein wunderbarer Spagat zwischen Tragik und Komik und damit eine Ode an das Leben selbst, das eben alles andere als geradlinig verläuft. Angeführt vom sehr wandlungsfähigen Mads Mikkelsen unterzieht sich sein Männer-Quartett einem Experiment, das den gesunden Menschenverstand ablegt und sich reiner Lebenslust hingibt – die allerdings auch tödlich enden könnte. Wie auch das Leben selbst. Vinterbergs Kamera beobachtet die Protagonisten ganz behutsam und drängt sich nicht auf. Es gibt keine Filmmusik im herkömmlichen Sinn, sondern ausschließlich sogenannte “On Screen”-Musik, die das Geschehen auf der Leinwand perfekt und teilweise sehr dynamisch kommentiert. Durch diese Stilmittel wirkt Vinterbergs Film manchmal fast dokumentarisch, was seine Wirkung zusätzlich erhöht. Definitiv ein Kinobesuch, der zum Nachdenken anregt. Und überaus durstig macht!
Montag, 26. Juli 2021
Radikale und Killer
Mit diesem gemischten Doppel ging die neue Pressewoche gleichzeitig auch wieder zu Ende

JE SUIS KARL (1:2.35, 5.1)
Verleih: Pandora
Land/Jahr: Deutschland, Tschechien 2021
Regie: Christian Schwochow
Darsteller: Jannis Niewöhner, Luna Wedler, Milan Peschel
Kinostart: 16.09.2021

Als ihre Mutter und ihre beiden kleinen Brüder bei einem Terroranschlag getötet werden, bricht die Welt für die junge Maxie in sich zusammen. Geschürt von Angst und Wut lässt sie ihren Vater und ihr bisheriges Leben hinter sich und folgt dem charismatischen Karl, der eine Jugendbewegung ins Leben gerufen hat mit dem Ziel, eine bessere Welt zu erschaffen. Was Maxie aber nicht ahnt: Karl weiß mehr über den Terroranschlag als er zugibt... Einen solchen Film hat man von Regisseur Christian Schwochow eigentlich gar nicht erwartet. Mit Filmen wie DEUTSCHSTUNDE oder PAULA spezialisierte sich der Regisseur auf Dramen der leisen Töne, begann aber parallel mit TV-Serien wie BAD BANKS und THE CROWN ganz andere Stoffe zu realisieren. In JE SUIS KARL schöpft Schwochow nun aus dem Vollen und zeigt, was Kino kann. Da wird auf CinemaScope aufgefahren (Kamera: Frank Lamm) und die Tonspur aufgedreht. Und was für eine Tonspur – feingeschliffen und perfekt! Die technischen Möglichkeiten, die modernes Kino zu bieten hat, nutzt er konsequent, um den Zuschauer in Maxies Welt zu entführen, sie mit ihren Augen erlebbar zu machen. Luna Wedler (DAS SCHÖNSTE MÄDCHEN DER WELT) liefert in dieser Rolle eine Power-Performance ab die klar signalisiert, dass man mit dieser Schauspielerin auch in Zukunft rechnen darf. Ihr Partner Jannis Niewöhner, längst kein Unbekannter mehr im deutschen Film, ist einmal mehr besetzt als ebenso charismatische wie zwielichtige Person. Und die Chemie zwischen Wedler und Niewöhner stimmt einfach. Die Geschichte über die Radikalisierung einer jungen Elite, die die Angst der jungen Protagonistin geschickt zu nutzen weiß, um ihre Ziele zu erreichen, ist hochaktuell. JE SUIS KARL kann geradezu als Lehrstück dienen in politisch instabilen Zeiten, wie sie die Welt momentan erfährt. Der Film ist einen Gang ins Kino wert.

THE VIRTUOSO (1:2.35, 5.1)
OT: The Virtuoso
Verleih: Kinostar
Land/Jahr: USA 2021
Regie: Nick Stagliano
Darsteller: Anson Mount, Abbie Cornish, Sir Anthony Hopkins, Eddie Marsen
Kinostart: 26.08.2021

Präzision und Timing zeichnen ihn aus: als Killer ist der “Virtuoso” sein Geld wert. Doch sein neuer Auftrag entwickelt sich alsbald für ihn selbst zu einem Himmelfahrtskommando... Dieses Stelldichein der Killer ist zwar alles andere als neu, doch macht es der handverlesene Cast zu einem kleinen Vergnügen. Auch wenn etwas zuviel aus dem Off geredet wird und die wenigen Plot Twists Genre-Fans nicht gerade vom Hocker hauen werden, gefällt die mit einem Fokus auf Close-Ups gut fotografierte ruhige Erzählweise. Nick Staglianos Thriller mutet wie ein Crossover zwischen BAD TIMES AT THE EL ROYALE und THE HATEFUL EIGHT an, ohne aber je deren Qualitäten zu erreichen. Ein netter kleiner Film für zwischendurch.
Sonntag, 25. Juli 2021
Träumer
Endlich mal wieder ein Musical auf großer Leinwand

IN THE HEIGHTS: RHYTHM OF NEW YORK (1:2.35, DD 5.1 + 7.1 + Atmos)
OT: In The Heights
Verleih: Warner
Land/Jahr: USA 2020
Regie: Jon M. Chu
Darsteller: Anthony Ramos, Corey Hawkins, Joseph Velez
Kinostart: 22.07.2021

Der überwiegend von südamerikanischen Einwanderern bevölkerten New Yorker Stadtteil “Washington Heights” ächzt unter einer gnadenlosen Hitze. Hier betreibt der sympathische Usnavi seinen kleinen Gemischtwarenladen und träumt davon, eines Tages in seine Heimat in der Dominikanischen Republik zurückzukehren und das Geschäft seines Vaters wieder aufzubauen. Wie Usnavi so träumt auch die gesamte Latino-Community um ihn herum von einem besseren Leben... In der richtigen Lautstärke vorgeführt, entwickelt die aus Rap-Elementen und lateinamerikanischen Rhythmen bestehende Musik eine Power, die in die Beine geht. Die Tanz-Choreographien sprudeln zwar nur so vor Einfallsreichtum, aber sie kommen leider erst gar nicht dazu ihre Wirkung richtig zu entfalten, weil diese Sequenzen viel zu schnell geschnitten sind! Das ist bei einem Musical natürlich extrem schade und man fragt sich, ob damit Inszenierungsschwächen kaschiert werden sollen. Mit fast zweieinhalb Stunden Spielzeit ist der Film dann auch noch etwas zu lang geraten: es stellt sich immer wieder Langeweile ein! Letztendlich ist dann auch noch die Botschaft des Films etwas fragwürdig, wird doch die These vertreten, dass man nur dann richtig glücklich sein kann, wenn man bettelarm ist. Da hätte man sich dann doch eine etwas ausgewogenere Botschaft gewünscht.
Donnerstag, 22. Juli 2021
Ein Mann vergisst
Ein brillanter Darsteller in einem brillanten Film – mein Donnerstag

THE FATHER (1:2.35, 5.1)
OT: The Father
Verleih: Tobis
Land/Jahr: Großbritannien, Frankreich 2020
Regie: Florian Zeller
Darsteller: Olivia Colman, Sir Anthony Hopkins, Mark Gatiss, Imogen Poots, Rufus Sewell, Olivia Williams
Kinostart: 26.08.2021

Weil Anne mit ihrem neuen Lebensgefährten nach Paris ziehen möchte, versucht sie ihren zunehmend dementen Vater davon zu überzeugen, eine Pflegekraft bei sich aufzunehmen. Doch der Alte weigert sich beharrlich. Wie er sich auch beharrlich weigert, seine Demenz zu akzeptieren... Nach seinem eigenen Theaterstück hat der Österreicher Florian Zeller jetzt einen Film inszeniert. Und was für einen! Nicht nur brilliert der Brite Anthony Hopkins in seiner Oscar-prämierten Rolle als dementer Vater, auch spielt Zeller durch einige raffinierte Tricks mit seinem Publikum. So besetzt er beispielsweise die Rolle der Tochter gleich mit zwei Schauspielerinnen und verdeutlicht damit, in welch schlimmen Lage sich der Vater befindet. Dass es sich um eine Theatervorlage handelt, merkt man dem Film nicht so einfach an, weil Ausstattung und Kameraführung für die große Leinwand inszeniert sind. Im Mittelpunkt steht zwar die Figur des Vaters, dessen Demenz sehr wirkungsvoll demonstriert wird, aber Zeller beleuchtet auch das Gefühlsspektrum der Angehörigen, die durch die Demenz ebenfalls durch die Hölle gehen. Ein ernster, depressiver Film. Aber auch das kann großes Kino sein.
Mittwoch, 21. Juli 2021
Der Duft der Rosen
Blumige Bilder zur Wochenmitte

DER ROSENGARTEN VON MADAME VERNET (1:2.35, 5.1)
OT: La Fine Fleur
Verleih: Neue Visionen
Land/Jahr: Frankreich 2021
Regie: Pierre Pinaud
Darsteller: Catherine Frot, Manel Foulgoc, Fatsah Bouyahmed
Kinostart: 09.09.2021

Mit ihren Rosenzüchtungen in der eigenen Gärtnerei hat sich Eve eine Namen gemacht und viele Preise eingeheimst. Jetzt aber geht die “Goldene Rose” Jahr um Jahr an eine Großzüchterei und Eve ist in finanziellen Nöten und braucht dringend Hilfe. Die fällt in Form dreier neuer Mitarbeiter vom Himmel – das Resultat eines Resozialisierungsprogramms. Die haben natürlich keine Ahnung von Pflanzen, kennen sich dafür aber mit Diebstahl aus. Und genau das wird jetzt gebraucht... Pierre Pinauds in herrlicher Rosenpracht schwelgender Film ist leichte Kost, dem es hin und wieder an etwas Pfeffer mangelt, um als Komödie richtig überzeugen zu können. Immerhin gibt sich das Werk nicht vollkommen oberflächlich, sondern erzählt auch etwas über Aufzucht und Pflege und Verantwortung, die man nicht nur gegenüber Blumen hat, sondern insbesondere auch gegenüber den eigenen Kindern. An der Besetzung gibt es nichts zu kritisieren – alle Charaktere sind perfekt ausgewählt und bleiben dank ihrer unverbrauchten Gesichtern immer interessant. Sein etwas märchenhaft anmutendes Ende, bei dem Mathieu Lamboleys Filmmusik die Funktion des Tränendrückers zukommt, sei Pinauds Film verziehen. Denn träumen darf man immer.
Dienstag, 20. Juli 2021
Männer allein in der Tiefe
Auf der Tagesordnung stand heute ein Dokumentarfilm, der manchen Menschen Angst einflößen wird

DAS RIESENDING – 20.000 METER UNTER DER ERDE (1:1.78, 5.1)
Verleih: Filmwelt
Land/Jahr: Deutschland 2021
Regie: Petra Höfer, Freddie Röckenhaus
Kinostart: 01.07.2021

Sie beginnt auf dem oft verschneiten Plateau des Untersbergs und endet...ja wo eigentlich? Die Rede ist vom “Riesending”, Deutschlands größter bekannter Schachthöhle. Fünf gestandene Männer, allesamt in guten Jobs tätig, machen sich auf, diese sich über 20.000 Kilometer unterirdisch erstreckende Höhle zu erkunden und vielleicht endlich ihren Ausgang zu finden. Begleitet werden die Hobby-Forscher aus Leidenschaft von Kameras, die die lebensgefährliche Begehung dokumentieren. Das Resultat dieser Expedition mündet nun in einen abendfüllenden Dokumentarfilm, der diese waghalsige Begehung hautnah miterleben lässt. Menschen mit einem Klaustrophobieproblem sollten den Film tunlichst meiden, würde er ihre Urängste nur weiter befeuern. Es ist nicht das erste Mal, dass die fünf Männer in das Riesending hinabtauchen – schon viele Male waren sie hier, haben Depots und Lager gebaut, Seile verlegt und sogar ein Schlauchboot deponiert. Das wird auch dringend gebraucht, um die unterirdischen Seen trockenen Fußes zu überqueren. Bizarre Gesteinsformationen, riesige Hallen und extrem enge Schluchten begleiten tagelang ihren Weg – und das bei eisiger Kälte. Das alles erinnert ein wenig an den wunderbaren Horrorthriller THE DESCENT, nur dass es hier keine Monster gibt. Oder etwa doch? Die Antwort gibt es im Kino.
Montag, 19. Juli 2021
Mut und Follower
Den Montag habe ich zum Dokumentarfilmdoppel erhoben

COURAGE – DEMOKRATIEBEWEGUNGEN IN BELARUS (1:2.35, 5.1)
OT: Courage
Verleih: Rise and Shine Cinema
Land/Jahr: Deutschland, Weißrussland 2021
Regie: Aliaksei Palujan
Kinostart: 01.07.2021

Im Sommer des Jahres 2020 stehen in Belarus (Weißrussland) Präsidentschaftswahlen an. Es hat sich eine Demokratiebewegung formiert, deren Ziel es ist, den seit über 20 Jahren mit harter Hand regierenden Präsidenten Lukaschenko abzusetzen und echte Demokratie zu etablieren. Filmemacher Aliaksei Palujan begleitet drei Mitglieder des “Belarus Free Theatre”, die an den friedlichen Protesten gegen das Regime teilnehmen und damit für dieses zur Bedrohung werden. Palujans agile Kamera mischt sich mit den Protagonisten unter die Massenproteste und zeigt hautnah und beängstigend die Reaktionen des Regimes. Vielmehr noch zeigt Palujan aber den Mut dieser Menschen, sich gegen das Regime zu erheben. In Dialogen und Monologen äußern sich die drei Schauspieler zu ihrem Handeln. Der Regisseur bringt seine Protagonisten dem Publikum näher, indem er sie ebenso im Alltag zuhause zeigt wie auch bei Proben im Theater. Wenn selbst diese friedliebenden Menschen sich den Massenprotesten anschließen und damit ihr Leben riskieren, hat das Signalwirkung.


ROAMERS – FOLLOW YOUR LIKES (1:2.35, 5.1)
OT: Roamers – Auf Heimatsuche in einer digitalisierten Welt
Verleih: Camino
Land/Jahr: Deutschland 2021
Regie: Lena Leonhardt
Kinostart: 22.07.2021

Raus aus dem Hamsterrad – hinein in das wirkliche Leben! Die Protagonisten in Lena Leonhardts unkommentiertem Dokumentarfilm haben eines gemeinsam: sie alle haben ihre guten Jobs an den Nagel gehängt, ihre sichere (Lebens)Häfen verlassen und sich für ein aufregendes Leben als digitale Nomaden entschieden. Ihre Heimat sind jetzt Intstagram, Facebook und Co., also Internetplatformen, auf denen sie ihr ruheloses Leben vermarkten. Hier geht es nur noch um Likes und Zugriffszahlen. Da ist dieses junge Pärchen, das mit privaten, von ihren Followern bestellte Pornos an jedem Fleckchen der Erde drehen, um so ihr Geld zu verdienen. Oder der Immobilienmakler, der seine Kündigung zum Anlass nahm, sich selbstständig zu machen. Oder die Top-Managerin, die ihre Ehe aufgab, um alleine mit einem Segelboot die Welt zu umsegeln und regelmäßig Videos zu posten. Mit stimmungsvollen CinemaScope-Bildern fängt die Filmemacherin den Alltag dieser digitalen Nomaden ein, folgt ihnen ruhelos in viele Länder und lässt sie vor der Kamera über ihr Leben, ihre Wünsche und ihre Zukunft plaudern. Dabei wird offensichtlich, dass deren selbstgewähltes Leben nicht immer nur Zuckerschlecken ist, wo fallende Zugriffszahlen auf ein bestimmtes Video fast schon Panik auflösen. Das Hamsterrad ist nicht verschwunden, es sieht nur anders aus. Eine sehr sehenswerte Doku (ab 16 freigegeben!), die sich all diejenigen anschauen sollten, die sich mit dem Gedanken tragen, selbt digitale Nomaden zu werden.

Freitag, 16. Juli 2021
Freibad der Träume
Mit einer deutschen Komödie klang heute die Pressewoche aus

BECKENRAND SHERIFF (1:2.35, 5.1)
Verleih: Leonine
Land/Jahr: Deutschland 2020
Regie: Marcus H. Rosenmüller
Darsteller: Milan Peschel, Johanna Wokalek, Dimitri Abold, Sarah Mahita, Sebastian Bezzel, Rick Kavanian, Gisela Schneeberger, Frederic Linkemann
Kinostart: 09.09.2021

Karl liebt seinen Job als Schwimmmeister. Penibel genau herrscht er uneingeschränkt über das Freibad in Grubberg. Das aber ist inzwischen ziemlich marode und lechzt nach Überholung. Doch die Gemeinde hat kein Geld dafür und möchte das Freibad schließen. Auf dem Grundstück sollen teure Luxuswohnungen entstehen. Das aber möchte sich Karl nicht gefallen lassen. Gemeinsam mit seinem neuen Schützling, dem dunkelhäutigen Flüchtling Sali, macht er sich bereit für den Kampf um den Erhalt seiner Heimat... In der Rolle des Schwimmmeisters erinnert Milan Peschel im Hinblick auf Gestik, Mimik und Artikulation an den großen Louis de Funes. Dieser Schwimmmeister wäre sicherlich eine Paraderolle für den unvergessenen französischen Komiker gewesen. Peschel und Kollegin Johanna Wokalek, die eine Wasserballtrainerin spielt, erinnern in ihrer Konstellation an ein Paar, das aus einem Sketch von Loriot entsprungen sein könnte. Da fallen dann großartige Sätze wie “Ich habe schon lange nicht mehr gemeinsam gepuzzlet”, wenn die zwei ihr erstes Date absolvieren. Leider birgt das Drehbuch ein paar Schwächen, kann sich oft nicht zwischen Drama und skurriler Slapstick entscheiden. Dass dann auch noch die Flüchtlingsproblematik aufgegriffen wird, hätte nicht sein müssen. Denn der Film, in dem es um Zusammenhalt, Solidarität und Freundschaft geht, hätte diese ernsten Töne gar nicht nötig. Was den Rest des Casts angeht, so ist dieser wirklich stimmig geraten. Insbesondere Gisela Schneeberger als Bürgermeisterin und Rick Kavanian als Doktor, der nicht vom Turm springen kann, sorgen oft für Schmunzler oder gar Lacher. Einzig Sebastian Bezzel scheint in seiner Rolle als Bauunternehmer und “Bad Guy” etwas unterfordert. Mit fast zwei Stunden Länge ist die mit etwas schwarzem Humor angereicherte Dramödie leider zwanzig Minuten zu lang geraten. Für den (fast) unbeschwerten Kinoabend zu zweit reicht es aber allemal.
Donnerstag, 15. Juli 2021
Letzte Party und letztes Zuhause
Das Donnerstags-Presse-Doppel hatte leider keine richtigen Knaller auf Lager

HOW IT ENDS (1:1.85, 5.1)
OT: How It Ends
Verleih: Kinostar
Land/Jahr: USA 2021
Regie: Zoe Lister-Jones, Daryl Wein
Darsteller: Zoe Lister-Jones, Cailee Spaeny, Whitney Cummings
Kinostart: 12.08.2021

Es ist der letzte Tag auf Erden. Und Liza ist fest dazu entschlossen, ihn in Los Angeles mit einer Party zu genießen. Gemeinsam mit ihrem jüngeren Ich streift sie durch die menschenleere Metropole und hat Begegnungen mit allerlei seltsamen Gestalten... Glaubt man den Endtiteln, dann ist dieses Werk “mit viel Liebe während der Coronoa-Pandemie” entstanden. Diesem Umstand ist wohl dann auch geschuldet, dass der Film unglaublich bräsig daherkommt und die Wirkung einer Theaterinszenierung innehat. Trotz seinen nur 82 Minuten Spielzeit fühlt sich der von Zoe Lister-Jones und Daryl Wein gemeinschaftlich inszenierter Film wie ganze zwei Stunden an. Es mag durchaus sein, dass es Menschen gibt, die diesen Film lieben werden, ich jedoch empfand ihn als Vergeudung wertvoller Lebenszeit.

QUEEN BEES (1:1.85, 5.1)
OT: Queen Bees
Verleih: Kinostar
Land/Jahr: USA 2021
Regie: Michael Lembeck
Darsteller: Ellen Burstyn, James Caan, Ann-Margret
Kinostart: 19.08.2021

Als ihr Haus renoviert werden muss, zieht die verwitwete Seniorin Helen in eine Wohnanlage für alte Menschen. Ihre Ablehnung gegenüber dem Heim schwindet zunehmend, als sie durch eine Zicken-Clique herausgefordert wird und ihr der sympathische Dan auch noch den Hof macht... Filme mit Menschen im Greisenalter, die ihr gewohntes Umfeld aufmischen, gibt es schon einige. Michael Lembecks QUEEN BEES ist zwar einer von diesen, aber ein ganz harmloser. Und das ist das Positive daran. Da wird zwar schon mal im Bettchen gekifft und mit dem gutaussehenden Trainer geflirtet, aber auf den Schlag unterhalb der Gürtellinie wird verzichtet. Warum also den Film überhaupt anschauen? Der einzige Grund ist sein Cast – allesamt altgediente Schauspielerinnen und Schauspieler, die hier vielleicht in ihren letzten Rollen zu sehen sind. Oder aber zu einer späten Karriere starten! Ganz so wie es der von Ellen Burstyn dargestellten Figur geht, die tatsächlich im betreuten Wohnheim eine neue Liebe findet und damit einen Neuanfang wagt. Das alles ist sehr gefühlvoll inszeniert, ohne zu arg auf die Tränendrüse zu drücken. Ein Film für das gesetzte Alter.

VOGELFREI. EIN LEBEN ALS FLIEGENDE NOMADEN (1:1.78, 5.1)
Verleih: Trike-Globetrotter (Filmagentinnen)
Land/Jahr: Deutschland 2021
Regie: Andreas Zmuda, Doreen Kröber
Kinostart: 08.07.2021

Wer träumt nicht davon in absoluter Freiheit zu leben, insbesondere jetzt, wo die Freiheit gerade durch die Corona-Pandemie extrem eingeschränkt wird? Andreas Zmuda und Doreen Kröber haben diesen Traum von Freiheit verwirklicht, als sie 2012 mit ihrem Trike, dem “Motorrad der Lüfte”, auf eine sechsjährige Reise über den amerikanischen Kontinent aufmachten. Diese sechs Jahre in der Luft haben die beiden jetzt zu einem knapp zweistündigen Dokumentarfilm verarbeitet. Herausgekommen ist dabei eine Art “Amerika von oben”, dessen Flugaufnahmen mit am Trike befestigten Kameras absolut spektakulär sind. Die faszinierende Vogelperspektive gepaart mit malerischen Farben befeuern das Fernweh, das man beim Zuschauen verspürt. Weniger gelungen im Film ist die Dramaturgie: es gibt unendlich viele Auf- und Abblenden, unendlich viele Starts, unendlich viele Landungen, dafür nur wenig Land und Leute. Alles unterlegt mit lizenzfreier Musik, die mancher Sequenz hilft, oft aber etwas nervt. Durch die bereits erwähnten Auf- und Abblenden wird der Film in kleine Episödchen zerstückelt, es fehlt der Zusammenhalt. Den hätte man auf der Tonebene durchaus herbeiführen können, doch auch dort wird auf- und abgeblendet. Nicht jeder Abenteurer kann gleichzeitig ein guter Filmemacher sein. So bleiben am Ende nur die wirklich prächtigen Aufnahmen in schwindelerregender Höhe im Gedächtnis.


Dienstag, 13. Juli 2021
Viele Kugeln statt vieler Worte
Actionreiche Kost am Dienstagmorgen

CASH TRUCK (1:2.35, DD 5.1 + 7.1 + Atmos)
OT: Wrath Of Man
Verleih: Studiocanal
Land/Jahr: Großbritannien, USA 2021
Regie: Guy Ritchie
Darsteller: Jason Statham, Josh Hartnett, Scott Eastwood
Kinostart: 29.07.2021

Der wortkarge “H” tritt eine Stelle als Wachmann bei einer Geldtransport-Firma an. Durch seine radikale Vorgehensweise gegen die Räuber während eines Überfalls auf einen Transport macht er sich einen Namen in der Belegschaft und genießt uneingeschränktes Vertrauen. Was noch niemand ahnt: “H” verfolgt einen perfiden Plan, den er alsbald in die Tat umsetzen wird... Wer die Filme von Guy Ritchie kennt und liebt (zuletzt THE GENTLEMEN), der weiß, dass der Brite seine Filme stets augenzwinkernd mit einer großen Portion Humor serviert. Doch Humor ist in seinem neuen Film Fehlanzeige. Fast so, als wäre es eine Auftragsarbeit, die er mit CASH TRUCK abliefert. Wem der deutsche Verleihtitel irgendwie bekannt vorkommt, der liegt richtig. Denn WRATH OF MAN, wie der Film im englischen Original lautet, ist nichts anderes als eine Neuauflage des französischen Actionfilms LE CONVOYEUR, der 2004 entstand und in Deutschland auf dem Fantasy Filmfest zu sehen war und später unter dem Titel CASH TRUCK – DER TOD FÄHRT MIT auf DVD veröffentlicht wurde. Zugegebenermaßen kenne ich das französische Original nicht, kann mir aber vorstellen, dass es der bessere Film ist. Denn was Ritchie hier abliefert enttäuscht über weite Strecken. Da helfen auch nicht die vielen Zeitsprünge, die den Film interessanter erscheinen lassen sollen als er tatsächlich ist. Aufgebaut ist Ritchies Film ganz auf Jason Statham, der mit starrer Miene auf Rachefeldzug geht. Dass er dabei mehr Kugeln aus seiner Wumme ballert als er Dialoge zu sprechen hat, versteht sich dabei fast von selbst. Allerdings nimmt man ihn den liebevollen Vater zu keiner Sekunde ab. CASH TRUCK liefert einen beachtlichen Body Count und dürfte actionaffines Publikum zufriedenstellen. Publikum mit etwas höheren Ansprüchen wird sich hier jedoch ziemlich schwer tun. Noch der Hinweis an Filmmusikfans: Christopher Bensteads Titelmusik erinnert sicher nicht zufällig an die Klänge von Maestro Ennio Morricone.
Donnerstag, 08. Juli 2021
Gibt es Zufälle?
Heute in der Presse - das Kino-Highlight der Woche

HELDEN DER WAHRSCHEINLICHKEIT (1:2.35, DD 5.1 + Atmos)
OT: Retfærdighedens Ryttere
Verleih: Splendid (Neue Visionen)
Land/Jahr: Dänemark 2020
Regie: Anders Thomas Jensen
Darsteller: Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas, Nicolas Bro
Kinostart: 23.09.2021

War es tatsächlich nur ein dummer Zufall, der vielen Menschen das Leben kostete, oder war es ein Attentat? Otto, der gerade als Mathematiker seinen Job verloren hat und in dem Zug saß, der verunglückte, glaubt nicht an Zufälle. Der Algorithmus, den er entwickelte und der auf Wahrscheinlichkeitsrechnung beruht, lässt keinen Zweifel aufkommen: das Zugunglück war ein Attentat. Die Polizei jedoch hat kein Interesse an Ottos Verschwörungstheorien und wiegelt ab. So wendet er sich an den aus Afghanistan heimgekehrten Markus, dessen Frau im Zug verunglückte und ihn mit der Teenager-Tochter zurückließ. Gemeinsam mit seinen Kumpels Lennart und Emmenthaler bezieht er Stellung in Markus‘ großer Scheune, um das Rätsel zu lösen. Man ist sich schnell sicher, dass eine kriminelle Rockerbande hinter all dem steckt... Spätestens mit Filmen wie ADAMS ÄPFEL und DÄNISCHE DELIKATESSEN hat sich Drehbuchautor und Regisseur Thomas Anders Jensen auch international einen Namen gemacht. Tiefgründige Geschichten angereichert mit viel schwarzem Humor sind sein Markenzeichen. Ein Markenzeichen, dem er auch in seinem neuesten Werk treu bleibt, wenngleich aber seine Geschichte dieses Mal sehr viel dramatischer ausfällt. Es sind jetzt vornehmlich die Charaktere, die dem Film seine humoristischen Züge geben. Allesamt Charaktere, die mit ihren ganz eigenen Dämonen zu kämpfen haben. Dämonen, die der Film nach und nach freilegt und damit die Beweggründe dieser Helden in den Fokus rückt. Und weil er dies ganz nüchtern tut, wirken die Traumata, mit denen die Protagonisten leben müssen, umso erschreckender. Mit einer Top-Besetzung, die quasi die Creme de la Creme dänischer Schauspieler darstellt, einem spannenden Drehbuch, einer exzellenten Kameraführung sowie einer perfekten Filmmusik liefert Jensen einen Film ab, der nicht nur bei Genrefans großen Anklang finden dürfte, sondern ganz bestimmt auch bei einem größeren Publikum.
Mittwoch, 07. Juli 2021
Hochzeitskleider und Irish Punk
Endlich mal wieder ein schönes Doppelprogramm

DER HOCHZEITSSCHNEIDER VON ATHEN (1:2.35, 5.1)
OT: Tailor
Verleih: Neue Visionen
Land/Jahr: Belgien, Deutschland, Griechenland 2020
Regie: Sonia Liza Kenterman
Darsteller: Dimitris Imellos, Tamila Koulieva, Thanasis Papageorgiou
Kinostart: 26.08.2021

Gemeinsam mit seinem alten Vater betreibt Nikos eine Herrenschneiderei. Doch die schrumpfende Nachfrage nach Maßanzügen treibt den kleinen Laden in den Ruin. Als sein Vater dazu auch noch ins Krankenhaus kommt, muss sich Nikos ernsthaft Gedanken über die Zukunft seiner Schneiderei machen, zumal die Bank wegen der nicht getilgten Kredite mit Zwangsvollstreckung droht. Da hat er eine Idee: als mobiler Schneider geht er auf Märkte, um seine Dienstleistung anzubieten. Und nicht nur das: mit Hilfe seiner hübschen Nachbarin eröffnet er ein neues Geschäftsfeld: Hochzeitskleider... Wenn in Sonia Liza Kentermans etwas passiert, dann zumeist im Inneren ihrer Charaktere und weniger in ihren Bildern. Ein Film, den man zwischen den Zeilen lesen muss. Tut man das, so eröffnet sich ein ganzes Universum an Gefühlen, die insbesondere die Hauptfigur Nikos, hervorragend gespielt von Dimitris Imellos, betreffen. Der äußerlich ein wenig an “Mr. Bean” erinnernde, meist schweigsame Schneider lebt in seiner ganz eigenen Welt, die Kameramann George Michelis mit unzähligen Nah- und Makroaufnahmen bebildert und lässt Zuschauende damit teilhaben an seiner Liebe für schöne Stoffe, Fäden und sonstige Details, aber auch an seiner extrem zarten Liebe zur Nachbarin. Die Musik von Nikos Kypourgos tut ein Übriges, um diesen Mikrokosmos des Schneiders spürbar zu vermitteln. Wer gerne in Bildern liest und in Töne eintaucht, ist in diesem Film richtig aufgehoben.

SHANE (1:1.85, 5.1)
OT: Crock Of Gold: A Few Rounds With Shane MacGowan
Verleih: Neue Visionen
Land/Jahr: Großbritannien 2020
Regie: Julien Temple
Darsteller: Shane MacGowan
Kinostart: 19.08.2021

Musik-Doku-Experte Julien Temple liefert mit SHANE einen audio-visuellen Overkill ab, der die Zuschauenden mit seinen 124 Minuten Spielzeit in Atem hält und nachhaltig in seinen Bann zieht. Seine Collage aus Animationssequenzen und einem ganzen Füllhorn an historischen Filmaufnahmen ist jenem Mann gewidmet, der den Irish Punk in die Welt trug: Shane MacGowan, Frontmann der “Pogues”. Der heute 60jährige ist zwar durch seinen exzessiven Alkohol- und Drogenkonsum gezeichnet und wirkt in Haltung und Artikulation wie jemand nach einem Schlaganfall, doch sein Geist ist noch immer fit und lechzt danach, wieder Songs zu schreiben. In längeren Interview-Sequenzen, die oft nur aus dem Off zu hören sind und mit entsprechendem Bildmaterial unterfüttert werden, blickt er auf sein radikales Leben zurück und lässt damit die Hochzeit des Irish Punk Revue passieren. Die Musik ist extrem rhythmisch und reisst die Zuhörenden sofort mit, obgleich die Songtexte kein Blatt vor den Mund nehmen. Eine Musikdokumentation über einen großartigen Künstler, die einen nicht kalt lässt.

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