Wolfram Hannemann
Filmkritiker / Freelance Journalist / Filmemacher

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Samstag, 28. Mai 2022
Welcome back to the Danger Zone
Am Samstagmorgen habe ich mir ein immersives Kinoerlebnis gegönnt

TOP GUN MAVERICK (1:2.35 & 1:1.90, 5.1 + 7.1 + Atmos)
OT: Top Gun: Maverick
Verleih: Paramount
Land/Jahr: USA 2022
Regie: Joseph Kosinski
Darsteller: Tom Cruise, Val Kilmer, Miles Teller, Jennifer Connelly
Kinostart: 26.05.2022

Captain Pete “Maverick” Mitchell erhält den Auftrag, innerhalb einer Rekordzeit eine Einheit von Kampffliegern auf einen lebensgefährlichen Einsatz vorzubereiten. Dabei werden nicht nur Erinnerungen wach, sondern auch alte Feindschaften reaktiviert... Mit TOP GUN erschuf Werbefilmer Tony Scott 1986 den wohl längsten und erfolgreichsten Werbeclip der Filmgeschichte. Die Bewerbungen bei der US Navy stiegen nach der Veröffentlichung des Films um 500 Prozent an. 36 Jahre später schickt nun Regisseur Joseph Kosinki eine Fortsetzung in die Kinos. Auch sein Film liefert eine auf Hochglanz getrimmte Steilvorlage für die Marketingabteilung der Navy. Angesichts des hoch emotionalen und überaus immersiven Kinoerlebnisses dürfte sich die Navy auch dieses Mal über eine steigende Bewerberzahl freuen. Das derzeitige weltpolitische Klima könnte hier zudem wie ein Katalysator wirken. In der Fortsetzung steigt wieder Tom Cruise alias Maverick ins Cockpit und lässt aberwitzige Beschleunigungskräfte auf sich wirken. Und das Publikum ist hautnah mit dabei – zumindest in IMAX-Kinos, für die der Film konzipiert wurde. Auch wenn das maximale Bildformat hier nur 1:1.90 beträgt und damit das klassische auf 15/70-Technik basierende 1:1.44 hinter sich lässt, ist das Ergebnis in höchstem Maße ein sehr immersives Erlebnis, unterstützt von einer Tonspur, die man nicht nur hört, sondern auch spürt. Das IMAX 12-Kanal Format ist zwar nicht so präzise wie Dolby Atmos, verfehlt seine Wirkung dennoch nicht. Beeindruckend auch die Bildqualität, die sogar auf der größten IMAX-Bildwand der Welt, auf der ich den Film gesehen habe, ein genügendes Maß an Schärfe bietet. Die Story in TOP GUN MAVERICK freilich gerät angesichts der Bilder und Töne zur Nebensache, der Feind wird nicht einmal beim Namen genannt – hier genügt die Bezeichnung “Schurkenstaat”. Auch wenn Regisseur Kosinski zusammen mit seinem Kameramann Claudio Miranda ikonische Bilder liefert, können diese trotzdem nicht das Original toppen. Da wundert es nicht, dass man sich dazu entschlossen hat, die gesamte Eröffnungssequenz des Originals zu übernehmen und nur die Credits anzupassen. Eine nette Geste, mit der dem verstorbenen Tony Scott gehuldigt wird. Und sonst? TOP GUN MAVERICK ist ein Film, bei dem Jungs endlich wieder Jungs sein dürfen und sogar die Mädels zumindest ein wenig mitspielen lassen. Ein Film, der es bestens versteht, die Zuschauer für 131 Minuten dem Alltag zu entreissen und den Intellekt nicht zu überfordern. Dieses Vergnügen sollte man sich nicht entgehen lassen. Aber bitte auf der größtmöglichen Leinwand anschauen!
Donnerstag, 26. Mai 2022
Mit Schwert und Feder
Und noch ein Nachsitztermin – ein Musical!

CYRANO (1:2.35, 5.1 + 7.1 + Atmos)
OT: Cyrano
Verleih: Universal
Land/Jahr: USA, Großbritannien 2021
Regie: Joe Wright
Darsteller: Peter Dinklage, Kelvin Harrison Jr., Haley Bennett
Kinostart: 03.03.2022

Im Frankreich des 17. Jahrhunderts verliebt sich der kleinwüchsige, aber äußerst gewitzte Offizier Cyrano De Bergerac, ein Meister der Worte und des Schwertes, in die wunderschöne Roxanne, gesteht ihr aber seine Liebe nicht aus Angst davor, das sie ihn wegen seiner Größe abweisen könnte. Als sich Roxanne in den Kadetten Christian verliebt und Cyrano bittet, als Vermittler zwischen ihr und ihm zu fungieren, hilft Cyrano ihm, Roxanne zu umwerben, indem er in Christians Namen Briefe an sie schreibt - und so seinen eigenen Emotionen Ausdruck verleiht... Einmal mehr dient die zeitlose literarische Vorlage von Edmond Rostand als Basis für eine Verfilmung. Besser gesagt: als Basis für eine Bühnenversion, die jetzt für die große Leinwand adaptiert wurde. Drehbuchautorin Erica Schmidt hat damit ihr eigenes Theaterstück für das Kino angepasst und Joe Wright, seinerzeit mit der Verfilmung von Jane Austens STOLZ & VORURTEIL bekannt geworden, hat es mit der Bühnenbesetzung inszeniert. Entstanden ist dabei ein opulentes Musical, bei dem Diversität hoch im Kurs steht. Egal ob dunkelhäutig oder hell, ob kleinwüchsig oder groß – die optische Erscheinung spielt hier keine Rolle mehr. Leidet Cyrano in Rostands Vorlage noch unter einer zu langen Nase, so ist er in Schmidts Version ein Kleinwüchsiger – eine Paraderolle für Peter Dinklage. Die Gesangseinlagen dienen im Film nicht als Ausschmückung oder Unterbrechung, sondern führen die Handlung konsequent weiter. Dabei sind die Lieder alles andere als Ohrwürmer, sondern spiegeln Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit wider und nehmen das traurige Ende vorweg.
Mittwoch, 25. Mai 2022
Eine Kindheit in Irland
Heute mal wieder ein Nachsitztermin im Heimkino

BELFAST (1:1.85, 5.1 + 7.1 + Atmos)
OT: Belfast
Verleih: Universal
Land/Jahr: Großbritannien 2021
Regie: Sir Kenneth Branagh
Darsteller: Jude Hill, Jamie Dornan, Caitriona Balfe, Ciarán Hinds, Dame Judi Dench
Kinostart: 24.02.2022

Belfast im Jahre 1969. Der achtjährige Buddy lebt mit Eltern, Bruder und Großeltern in einer kleinen Straße, auf der das Leben pulsiert. Bis zu jenem Tag, an dem sich alles ändert: der Krieg der Katholiken gegen die Protestanten, denen Buddys Familie angehört, macht das Leben hier brandgefährlich. Während sein Vater sich mit dem Gedanken trägt auszuwandern, versucht Buddy seine Kindheit weiterzuleben. Und die wird geprägt von Kino, Fernsehen und – seiner Klassenkameradin... Das autobiographisch angehauchte Werk von Kenneth Branagh lebt von seinen liebenswerten Charakteren, die im Angesicht von Krieg und Terror immer einen Witz auf den Lippen parat haben. Typische Iren eben wie man sie kennt und liebt. Die Besetzung ist allesamt erstklassig, doch der kleine Jude Hill stiehlt hier allen die Schau und dürfte die Herzen der Zuschauer*innen im Sturm erobern! Immer wieder setzt Branagh auf der Tonspur Songs ein, die gleichzeitig als Zeitkolorit wie auch als Kommentar funktionieren. Den Film im Original anzuschauen war gewiss eine große Herausforderung, doch wollte ich mich keinesfalls um den typisch irischen Slang bringen, der dem Film Authentizität verleiht. Hier waren natürlich die englischen Untertitel von unschätzbarem Wert. In technischer Hinsicht beeindruckend in Branaghs Film ist zum Einen die Farbdramaturgie, die das ansonsten schwarzweiße Bild immer dann farbig werden lässt, wenn der kleine Buddy im Kino einen Film anschaut oder im Theater eine Aufführung erlebt. Zum Anderen reizt der Film die modernen Möglichkeiten der Tonspur aus, um die Zuschauer akustisch mitten ins Geschehen zu ziehen. Wer die Möglichkeit hat, den Film in Dolby Atmos anzuhören, der sollte die Chance nutzen. Fazit: definitiv einer der besten Filme, die ich in diesem Jahr sehen durfte.
Montag, 23. Mai 2022
Multikulti zum Dritten
Eine Komödie durfte die einzige Pressevorführung in dieser Woche bestreiten

MONSIEUR CLAUDE UND SEIN GROSSES FEST (1:1.85, 5.1)
OT: Qu'est-ce Qu'on A Tous Fait Au Bon Dieu?
Verleih: Neue Visionen
Land/Jahr: Frankreich 2022
Regie: Philippe de Chauveron
Darsteller: Christian Clavier, Chantal Lauby, Ary Abittan
Kinostart: 21.07.2022

Als der 40. Hochzeitstag von Monsieur Claude und seiner Frau Marie naht, beginnen ihre Töchter heimlich eine Überraschungsparty für die beiden zu planen. Dass dafür die gesamte Familie nebst aller Schwiegereltern einzuladen ist, versteht sich von selbst. Aber genau da fängt das Problem wieder an: die vielen ethnischen Zugehörigkeiten und Rassen werden ungebremst aufeinaderprallen. Also Augen zu und durch! - . Das französische Erfolgsrezept namens “Monsieur Claude” geht nunmehr in die dritte Runde – und hat leider nicht viel mehr zu bieten als altbekannte Sprüche zum Thema Rassismus. Die Gesinnung der einzelnen Bausteine Großfamilie ist aus den ersten beiden Filmen schon hinlänglich bekannt, so dass das wiederholte Anbringen politisch vollkommen inkorrekter Dialoge nicht wirklich vom Hocker reisst. Dem neuen Film fehlt es dazu an Dynamik – man wird einfach das Gefühl nicht los, dass der Film unendlich vor sich hinplätschert. Fühlt sich an wie öffentlich-rechtliches Fernsehen, ist aber fürs Kino gemacht. Immerhin verschont der Film seine Zuschauer mit allzu plumpen Anzüglichkeiten und setzt seinen Humor nicht direkt unter die Gürtellinie. Wo der Film vielleicht funktionieren könnte ist in einem voll besetzten Kinosaal, wo man unfreiwillig durch das Lachen der Anderen selbst zum lachen animiert werden könnte. Christian Clavier in der Rolle des Monsieur Claude tut zwar wie immer sein Möglichstes, seiner Figur Leben einzuhauchen, dich stelle man sich einfach einmal vor, was ein Mime wie Louis de Funès aus dieser Rolle gemacht hätte!

Sonntag, 15. Mai 2022
Verödete Areale
Meine Doku am Sonntagabend – nominiert für den Deutschen Filmpreis “Lola” in der Kategorie “Bester Dokumentarfilm”

WE ARE ALL DETROIT – VOM BLEIBEN UND VERSCHWINDEN (1:1.85, 5.1)
Verleih: RealFiction
Land/Jahr: Deutschland 2021
Regie: Ulrike Franke, Michael Loeken
Kinostart: 12.05.2022

Was in Detroit schon längst passiert war, trifft nun auch Bochum. Hier wie dort ist die einst für die ganze Region so extrem wichtige Autoindustrie komplett weggebrochen. Zurückgelassen wurden in Detroit viele Quadratkilometer große Areale, auf denen die verlassenen Werksgebäude und Fabrikhallen wie Mahnmale wirken und um sie herum Hunderte von freistehenden, verlassenen Häusern, in denen vor langer Zeit die Arbeiter wohnten. Ein ähnliches Bild liefert das ehemalige Opel-Areal in Bochum, auf dem es aber immerhin irgendwie weiterzugehen scheint. Ulrike Franke und Michael Loeken haben sich auf beiden Kontinenten umgeschaut und lassen in ihrem Film jene Menschen zu Wort kommen, die nach dem Niedergang der Autoindustrie auf der Suche nach einer neuen Identität sind. Dabei arbeiten die beiden Filmemacher Unterschiede und Parallelen heraus. Letzteres insbesondere im Schnitt, der manchmal fast unmerklich zwischen Detroit und Bochum springt. Der Film zeigt auch ganz deutlich, wie eine Großindustrie eine ganze Region verändern kann und welche Probleme entstehen, wenn diese Industrie niedergeht und damit die dort etablierte Gesellschaft in Mark und Bein trifft.

Freitag, 13. Mai 2022
Amour Fou
Die einzige Pressevorführung in dieser Woche hatte die neue Regiearbeit von Nicolette Krebitz im Gepäck

A E I O U – DAS SCHNELLE ALPHABET DER LIEBE (1:1.85, 5.1)
Verleih: Port au Prince (24 Bilder)
Land/Jahr: Deutschland, Frankreich 2022
Regie: Nicolette Krebitz
Darsteller: Sophie Rois, Milan Herms, Udo Kier
Kinostart: 16.06.2022

Anna, einst gefragte Schauspielerin, hält sich inzwischen nur noch mit Hörspielen mehr schlecht als recht über Wasser. Ihr väterlicher Vermieter wartet geduldig auf die Miete aus dem letzten Jahr. Ausgerechnet jetzt wird ihr auch noch die Handtasche auf offener Straße geraubt. Um ihre Geldnot zu lindern, soll sie einem jungen Schüler im Rahmen eines Resozialisierungsprogramms Sprechunterricht erteilen. Anna staunt nicht schlecht, als ihr Schüler genau jener Dieb ihrer Handtasche ist. Die beiden kommen sich näher... Was einige Rezensenten als Hommage auf Godards AUSSER ATEM interpretieren, erschloss sich mir leider als ein komplett künstliches Gebilde. Zu keiner der agierenden Personen konnte ich eine Verbindung aufbauen, sie alle scheinen in einem Paralleluniversum zu existieren, zu dem ich keinen Zugang fand. Sophie Rois als alternde Schauspielerin mit Geldnöten nervt ständig; Milan Herms als Adrian nuschelt was das Zeug hält; Udo Kier wirkt wie ein Laiendarsteller im falschen Film. Die Geschichte einer reifen Frau, die sich mit einem wesentlich jüngeren Mann einlässt, ist eigentlich ein Klassiker des Kinos, wurde aber noch nie so kalt und distanziert erzählt wie hier. Schade.
Samstag, 07. Mai 2022
Diametrale Lebensentwürfe
Deutsches Kino ist noch lange nicht tot, wie mir beim heutigen Film bewusst wurde

ALLES IN BESTER ORDNUNG (1:2.35, 5.1)
Verleih: Filmwelt
Land/Jahr: Deutschland 2021
Regie: Natja Brunckhorst
Darsteller: Corinna Harfouch, Daniel Sträßer, Luise Kinner, Joachim Król
Kinostart: 26.05.2022

Marlene übertreibt es mit dem Sammeln: ihre Wohnung gleicht mehr einer vollgestopften Höhle als einem heimeligen Zuhause. Der etwas jüngere Fynn dagegen lebt den Minimalismus und möchte nie mehr als 100 Dinge besitzen. Dass sich die so unterschiedlichen Menschen begegnen ist einem Wasserrohrbruch geschuldet, den Fynn in seiner Wohnung verursacht, die direkt über der von Marlene liegt. Die Zahntechnikerin quartiert den Wartungsingenieur für Flaschensortieranlagen zähneknirschend bei sich ein. Dass es bei Menschen, deren Lebensentwürfe derart diametral sind, zu Konflikten kommt, ist dabei natürlich unausweichlich. Aber Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an... Das Langfilmregiedebüt von Schauspielerin Natja Brunckhorst (CHRISTIANE F.) erweist sich als eine feine hintersinnige Komödie mit geschliffenem Dialogwitz (Drehbuch: Natja Brunckhorst, Martin Rehbock). Sagt er zu ihr “Ordnung ist das halbe Leben”, worauf sie erwidert “Willkommen in der zweiten Hälfte!”. Solche Dialoge hört man eher selten im deutschen Kino! Doch um sie richtig zur Geltung zu bringen, bedarf es guter Darsteller. Mit Corinna Harfouch als manische Sammlerin und Daniel Sträßer als Minimalist ist auch das hervorragend gelungen. Beide verkörpern ihre Rollen sehr überzeugend, Harfouch vielleicht sogar einen Tick mehr als Sträßer. Ein dickes Lob gebührt auch Szenenbild und Produktionsdesign, die hier aus dem Vollen schöpfen durften. Allein schon die riesige mit unendlich viel Krimskrams gefüllte Wohnung von Harfouch ist ein echter Hingucker! Da wird jedem Sammler und jeder Sammlerin von entsorgten Dingen das Herz höher springen. Genau jene Personengruppe sollte sich daher die zum Kinostart organisierte Kinotour von Regisseurin Natja Brunckhorst nicht entgehen lassen. Denn in jeder Stadt, in der sie mit ihrem Film Station macht, verlost sie Gegenstände (sprich: Requisiten) aus der Filmwohnung im Anschluss an die Filmvorführung. Wo genau sie überall auftaucht, erfährt man über die Website zum Film. Wen die seichten deutschen Komödien im Abendprogramm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zunehmend langweilen, ist bei Brunckhorsts Film gut aufgehoben. Also ab ins Kino!

Dienstag, 03. Mai 2022
Ein Abgesang auf das wahre Kino
Mein cineastisches Highlight der Woche

DAS LICHT, AUS DEM DIE TRÄUME SIND (1:2.35, 5.1)
OT: Last Film Show
Verleih: Neue Visionen
Land/Jahr: Indien, Frankreich, USA 2021
Regie: Pan Nalin
Darsteller: Bhavin Rabari, Bhavesh Shrimali, Rahul Koli
Kinostart: 12.05.2022

Der kleine Somay arbeitet am Bahnhof eines kleinen Dorfes irgendwo in Indien als Teeverkäufer für seinen Vater. Die triste Welt, die er bisher kannte, wird aus den Angeln gehoben, als ihn sein Vater zum ersten Mal ins Kino in der Stadt mitnimmt. Vollkommen fasziniert von dieser neuen Welt schwänzt er die Schule und schleicht sich immer wieder heimlich ins Kino. Als er entdeckt wird und hochkantig aus dem Kino fliegt, nimmt sich Filmvorführer Fazal seiner an. Die beiden machen einen Deal: Fazal darf den schmackhaften Inhalt von Somays Lunchbox essen, dafür darf Somay die Filme aus dem Vorführraum sehen... Pan Nalins autobiographisch angehauchter Spielfilm könnte so etwas wie Indiens Antwort auf CINEMA PARADISO sein. Hier offenbart sich ein wahres Fest für Filmenthusiasten und alle, die das Verschwinden des photochemischen Films zutiefst bedauern. Hier wird die traditionelle Filmvorführung in den Mittelpunkt gestellt – samt 35mm-Kopien, Überblendbetrieb und Klebepresse. Wenn in dem kleinen Somay die Liebe zum Film geweckt wird, denkt man als Zuschauer ganz sicher an die ersten eigenen Erfahrungen mit dem Kino- und Filmerlebnis – und wird wehmütig an die gute alte Zeit zurückdenken, in der noch alles möglich war. Somay und seine Kumpels sprühen nur so vor Erfindungsreichtum, wenn es um das Kino geht. So bauen sie beispielsweise aus Schrott einen richtigen Filmprojektor, stehlen Filmrollen aus einem Lager und organisieren eine heimliche Filmvorführung für ihr ganzes Dorf. Und weil sie keine Tonausrüstung haben, wird der Film live von einer ganzen Kinderschar vertont! Nalin spielt in seinem Film immer wieder mit Lichteffekten und Filtern, die Somays cineastischen Blick auf seine Welt visualisieren. Auch die Tonebene rückt er immer wieder in den Mittelpunkt und lässt seine Geschichte manchmal nur durch Geräusche erzählen. Damit bringt er die Magie von Film und Kino auf den Punkt. Wer Kino mag, der kann sich der Magie dieses Films nicht entziehen. Ein Muss nicht nur für Filmfans, sondern auch für Fans der indischen Küche!
Montag, 02. Mai 2022
Virtuelle Welten und Dschungeldickicht
Beim heutigen japanischenAnimationsfilm habe ich mir die Frage gestellt, wer wohl auf die Idee gekommen ist, weiße Untertitel auf zumeist weißen Hintergrund zu zaubern...

BELLE (1:2.35, 5.1 + 7.1 + Atmos)
OT: Ryu To Sobakasu No Hime
Verleih: Koch Films (24 Bilder)
Land/Jahr: Japan 2021
Regie: Mamoru Hosoda
Kinostart: 09.06.2022

Seit dem frühen Tod ihrer Mutter ist die inzwischen 17jährige Suzu traumatisiert und in sich gekehrt. Erst das Eintauchen in die virtuelle Welt “U” verändert alles für sie. Mittels ihres Avatars, der hinreissenden Belle, wird sie zum Star in der “U”-Welt. Doch schon bald ziehen dunkle Wolken am Horizont auf – in Form eines gewaltigen Drachens, der ihr Konzert in der virtuellen Welt stört. Anders als alle anderen ist Belle von dem Wesen fasziniert und will seine wahre Identität kennenlernen... Im farbenprächtigen Animationsfilm des japanischen Studios Chizu trifft READY PLAYER ONE auf DIE SCHÖNE UND DAS BIEST. Wie “Oasis” in READY PLAYER ONE, so dient hier die pompöse virtuelle Welt “U” als Ersatz für das wirkliche Leben, das oft nicht so ist wie man es sich wünschen würde. In “U” ist dafür alles möglich. Diese virtuelle Welt wird mit aufwändigen Kamerafahrten und einer Explosion an Farben auf der CinemaScope-Bildwand entfaltet. Die Geschichte zwischen Protagonistin Suzu, die als Belle “U” singend erobert, und dem Biest, einem Drachen, ist stark inspiriert von Disneys Animationsfilm aus den 1990er-Jahren. Da es jedoch eine zeitlose Geschichte ist, funktioniert die Übertragung in die nahe Zukunft perfekt. Ein schöner Score samt einfühlsamen Songs sorgt dafür, dass die Emotionen auch im Kinosaal ankommen. Seine mehr als zwei Stunden Laufzeit merkt man dem Film kaum an, laden doch seine Bilder immer wieder zum Schwelgen ein. Auch wenn die im Film visualisierte virtuelle Welt ein paar Vorteile genießt, so hat Regisseur Mamoru Hosoda am Ende doch noch eine andere, wesentlich wichtigere Botschaft: einen Sonnenuntergang in der wirklichen Welt anzuschauen durch ein entsprechendes virtuelles Erlebnis nicht überboten werden.

THE LOST CITY – DAS GEHEIMNIS DER VERLORENEN STADT (1:2.35, 5.1 + 7.1 + Atmos)
OT: The Lost City
Verleih: Paramount
Land/Jahr: USA 2022
Regie: Aaron Nee, Adam Nee
Darsteller: Sandra Bullock, Channing Tatum, Daniel Radcliffe, Brad Pitt
Kinostart: 21.04.2022

Eine erfolgreiche Romanautorin wird gekidnappt, um für einen stinkreichen Schnösel eine uralte Inschrift zu entschlüsseln, um dadurch einem großen Schatz auf die Spur zu kommen. Ihr zu Hilfe eilt das männliche Model ihrer Roman-Cover. Gemeinsam müssen die beiden zahlreiche Abenteuer auf einer exotischen Insel überstehen... Einst waren es Kathleen Turner und Michael Douglas in AUF DER JAGD NACH DEM GRÜNEN DIAMANTEN, jetzt sind es Sandra Bullock und Channing Tatum, die sich im Dschungeldickicht zusammenraufen müssen, um zu überleben. Leider gibt das Drehbuch heuer nicht viel Originelles her und auch die Regie versteht sich nicht darauf, aus dieser Konstellation eine richtige Komödie mit Romantik-Touch zu machen. Einzig der Auftritt von Brad Pitt als ein mit allen Wassern gewaschener Kämpfer im Sinne eines Indiana Jones vermag zu begeistern und führt zur einzigen unerwarteten Überraschung in diesem Film. Die Chemie zwischen Bullock und Tatum könnte noch einen Katalysator vertragen, um wirklich überzeugend zu sein. Na ja, es bleibt ein Film, den man einfach durchsitzt und nach dem Verlassen des Kinosaals auch gleich wieder vergessen hat. Doch Moment mal - etwas in diesem Film ist tatsächlich bombastich: die Tonspur! Zumindest in der Vorführung im “Dolby Cinema” mit Dolby Atmos Sound (und Dolby Vision Bild!) hat sich diese Tonmischung die höchste Punktezahl geholt. Yeah!

EVERYTGHING EVERYWHERE ALL AT ONCE (1:1.85 + 1:2.35 + 1:1.78, 5.1 +Atmos)
OT: Everything Everywhere All At Once
Verleih:Leonine
Land/Jahr: USA 2022
Regie: Dan Kwan, Daniel Scheinert
Darsteller: Michelle Yeoh, Jamie Lee Curtis, Stephanie Hsu
Kinostart: 28.04.2022

Evelyn Wang ist hoffnungslos überfordert. Nicht nur verlangt ihr Münzwaschsalon ihre ganze Aufmerksamkeit, auch ihr alter Vater, ihr Gatte und ihre erwachsene Tochter samt Lebenspartnerin wollen umsorgt werden. Zu allem Übel muss Evelyn auch noch ihre Steuererklärung machen. Beim Vorsprechtermin auf dem Finanzamt schließlich bricht Evelyns Universum zusammen – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn sie muss erkennen, dass es um sie herum Parallelwelten gibt, in denen nicht nur ihre Liebsten, sondern auch sie selbst komplett andere Leben führen... Was die Regisseure Dan Kwan und Daniel Scheinert hier auf die Leinwand werfen ist derart temporeich, dass einem fast schon der Atem stockt! Mit ihrer überbordenden Phantasie und dem großen Einfallsreichtum überfrachten sie damit allerdings den überlangen Film so sehr, dass es viele Zuschauer einfach überfordern dürfte. Der extrem schnelle Wechsel zwischen verschiedensten Universen und den darin agierenden unterschiedlichsten Inkarnationen der Protagonisten führt zur Reizüberflutung. Insbesondere dann, wenn man auf Untertitel angewiesen ist, die die vielen chinesischen Dialoge in die Muttersprache übersetzen. Zumindest ich war nach Sichtung des Films vollkommen platt und verließ achselzuckend den Kinosaal. “Not my cup of tea” würden die Engländer dazu sagen.

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