Wolfram Hannemann
Filmkritiker / Freelance Journalist / Filmemacher

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Dienstag, 27. Juni 2023
Präzise durchstrukturiertes Kino
Darf’s was Normales sein oder ein Film von Wes Anderson? Ich entschied mich heute für Letzteres.

ASTEROID CITY (1:1.37 & 1:2.35, 5.1 + 7.1)
OT: Asteroid City
Verleih: Universal
Land/Jahr: USA 2023
Regie: Wes Anderson
Darsteller: Tom Hanks, Jason Schwartzman, Scarlett Johansson, Jeffrey Wright, Tilda Swinton, Bryan Cranston, Ed Norton, Adrien Brody, Liev Schreiber, Hope Davis, Rupert Friend, Maya Hawke, Steve Carell, Margot Robbie, Matt Dillon, Hong Chau, Willem Dafoe, Jeff Goldblum, Rita Wilson
Kinostart: 15.06.2023

Asteroid liegt irgendwo im amerikanischen Niemandsland mitten in der Wüste. Ab und zu verirren sich Touristen hierher und bestaunen den Asteroiden, der hier gefunden wurde. Stammgäste sind die Junior Stargazer, die hier ihr Jahrestreffen abhalten. Zu ihen gesellt sich dieses Mal ein weiterer Gast. Einer von sehr weit her... Würde eine KI das Drehbuch schreiben und den Film auch noch Visualisieren, so würde der Film vermutlich genauso aussehen wie ein Film von Wes Anderson. Wie in allen anderen seiner Filme, so sind auch hier wieder die Dialoge und die Kameraeinstellungen samt ihrer Parallelfahrten mit mathematischer Präzision angelegt. Gefühle werden nicht gezeigt, sondern in irrwitzig schnellen, meist emotionslos vorgetragenen Dialogen abgearbeitet. Das visuelle Konzept des in Kapitel und Szenen unterteilten Films wechselt nicht nur zwischen Scharzweiß und kontrastarmen Pastellfarben, sondern auch zwischen klassischem 4:3-Bildformat und CinemaScope. Die Darstellerriege wirkt wie ein Who-is-Who des zeitgenössichen Hollywoods. Angesichts der präzisen Struktur des Films tritt die Story in den Hintergrund. Da geht es um einen Theaterautor, der ein neues Stück schreibt, das dann sogleich in ausladendem CinemaScope inszeniert wird. Am Ende bleibt der ein oder andere Schmunzler und noch mehr Achselzucken. Anstrengend war’s, aber auch irgendwie komplett anders. Wes Anderson eben.
Donnerstag, 22. Juni 2023
Ewige Liebe
Die heutige Pressevorführung zielte auf den Romantiker in mir

PAST LIVES – IN EINEM ANDEREN LEBEN (1:1.85, 5.1)
OT: Past Lives
Verleih: Studiocanal
Land/Jahr: Südkorea, USA 2023
Regie: Celine Song
Darsteller: Greta Lee, Teo Yoo, John Magaro
Kinostart: 10.08.2023

Nora und Hae Sung sind beide 12 Jahre alt und unzertrennlich. Bis Noras Familie sich entscheidet, von Südkorea nach Toronto auszuwandern. Die beiden verlieren sich aus den Augen, bis Hae Sung nach 12 Jahren beschließt, Nora im Internet aufzuspüren. In ihren Online-Telefonaten flammt ihre Freundschaft wieder auf. Doch es soll noch weitere 12 Jahre dauern, bis sich die beiden... Mit PAST LIVES – IN EINEM ANDEREN LEBEN gibt die in New York lebenede Schriftstellerin Celine Song ihr Debüt als Drehbuchautorin und Regisseurin. Ihr autobiographisch angehauchter Liebesfilm erzählt von einer Liebe, die allem Anschein nach vorbestimmt ist bzw. vorbestimmt war. Behutsam inszeniert sie die Geschichte ihrer beiden Protagonisten, die einen Zeitraum von 24 Jahren umfasst – oder sogar einen noch größeren zeitlichen Rahmen, denn die Liebe zwischen Nora und Hae Sung hat ihren Ursprung vielleicht in einem anderen, längst vergangenen Leben. Wem es im wahren Leben schon einmal ähnlich erging, der oder die wird sich in Songs Film wiederfinden. Verklärte Bilder mit zarter Farbgebung sowie eine feinfühlige Filmmusik tragen zum Gelingen des Films bei, der Fragen nach Liebe, Schicksal und den Entscheidungen, die ein Leben ausmachen, verhandelt. Ein Film für RomantikerInnen und solche, die es werden wollen.
Montag, 12. Juni 2023
In meinem Element
Endlich mal wieder ein Triple geschafft!

GET UP (1:2.35, 5.1)
Verleih: Constantin Film
Land/Jahr: Deutschland 2023
Regie: Lea Becker
Darsteller: Lisa Mantler, Lena Mantler, Sinje Irslinger, Jobel Mokonzi, Anton Kappler, Florence Kasumba
Kinostart: 29.06.2023

Alex und Lina sind zwar Zwillingsschwestern, doch grundverschieden. Lina hat das Ai mit Bravour geschafft und Ausicht auf ein Praktikum in London, während Alex durchs Abi gerauscht ist und momentan nicht weiter weiß. Was die beiden verbindet ist ihre Leidenschaft fürs Skateboardfahren. Zusammen mit der forschen Ewa und der Anfängerin Nia möchten die Schwestern als Team an einem Skateboard-Wettbewerb teilnehmen. Doch dafür müssen einige Hürden genommen werden... Nach bewährtem Muster entwickelt Regisseurin Lea Becker ihren Girls-Power-Film. Will heisen: Überraschungen oder spektakuläre Wendungen sieht das Drehbuch nicht vor. Dafür trumpft der Film aber mit einer großen Portion Energie auf, die die Fan-Gemeinde der Influencerinnen Lisa und Lena Mantler mitreißen dürfte. Wie inzwischen üblich, so werden auch in GET UP zeitgemäße Beziehungskonstrukte ingeflochten. Hier ist es eine lesbische Beziehung zwischen einem weißen und einem schwarzen Mädchen, die quasi gleich zwei Fliegen mit einer Klappe erschlägt. Im Film wird dies als vollkommen normal dargestellt, so als wäre es noch nie anders gewesen. Mit dem Zielpublikum der 14- bis 25-jährigen im Visier funktioniert das bestimmt, ältere Semester werden sich mit der neuen Normalität noch etwas schwer tun. Verhandelt werden im Film Themen wie Freundschaft, Geschwisterkonflikte (hier speziell die bei Zwillingen) und die Abnabelung von den Eltern, die zwar immer nur das Beste für Ihre Kinder wollen, aber nie danach fragen, was die Kinder eigentlich wollen. Zudem bricht GET UP eine Lanze für Mädels, die genauso gut oder vielleicht sogar besser Skaten können wie Jungs. Letztere spielen in Beckers Film nur eine Nebenrolle. Und das ist erfrischend wohltuend. Anmerkung: leider wurde uns der Film in der heutigen Pressevorführung in einer nicht finalen Fassung gezeigt.

ELEMENTAL (1:1.85, 5.1 + 7.1 + Atmos)
OT: Elemental
Verleih: Walt Disney Studios Motion Pictures Germany
Land/Jahr: USA 2023
Regie: Peter Sohn
Kinostart: 22.06.2023

Das Feuerwesen Ember komt mit ihren Eltern nach Element-City, wo sie ein neues Leben aufbauen wollen. Embers Vater eröffnet die ”Feuerstelle”, ein Bistro für Feuerwesen, und Ember kann s kaum erwarten, bis sie eines Tages den Laden führen darf. Doch das feurige Mädchen verliert sehr leicht die Beherrschung und explodiert immer wieder im wahrsten Sinne des Wortes. Da lernt sie den coolen Wade kennen, ein Wasserwesen, das ihr zeigt, wie einfach man Spaß haben kann. Aus Feundscahft wird bald Zuneigung. Aber es ist kompliziert. Denn die beiden Ungleichen können sich nicht berühren, ohne dass sie dem anderen Schaden zufügen... Wie heisst es doch so schön in der Liebe: Gegensätze ziehen sich an. Und wie könnte man das besser visualisieren als mit einer Liebesgeschichte zwischen einem Feuer-Mädchen und einem Wasser-Jungen! In dem unter ederführung von Peter Sohn entstandenen neuen Pixar-Animationsabenteuer werden diese Elemente aufs Vergnüglichste entfesselt. Es ist fast so, als hätte eine typische Bollywood-Story Einzug in die perfekt animierte Welt gehalten. Knallbunt präsentieren sich die Elemente in Element-City, jener Stadt mit unendlich vielen Gassen und wunderbaren Bauten. Hier muss Feuermädchen Ember zu sich selbst finden, muss erkennen, dass sie sich von den Erwartungen, die ihre Eltern an sie haben, lösen muss, um ein selbstbestimmtes Leben beginnen zu können. Wasserjunge Wade reisst sie aus ihrem Trott und hilft ihr mit seinem Witz und unendlich viel Liebe, ihren goldenen Käfig zu verlassen. Es ist eine zu Tränen rührende Geschichte, die viel über das Wesen der Liebe zu erzählen hat. Eine Liebe, die Feuer und Wasser nicht gegenseitig auslöscht, sondern die zwei Wesen sich miteinander verschmelzen lässt. Diese Meta-Ebene richtet sich vor allem an das erwachsene Publikum, doch ist dafür gesorgt, dass auch Kinder ihren Spaß in Elemnt-City und den quirrligen und lustigen Elemnten haben.

SIEBEN WINTER IN TEHERAN (1:1.78, 5.1)
Verleih: Little Dream Pictures
Land/Jahr: Deutschland 2023
Regie: Steffi Niederzoll
Kinostart: 14.09.2023

In ihrem Film dokumentiert Filmemacherin Steffi Niederzoll auf sehr eindringliche Weise den Fall der jungen Iranerin Reyhaneh Jabbari, die im Jahre 2014 nach sieben Jahren im Gefängnis im Alter von 27 Jahren in Teheran hingerichtet wurde. Dabei war sie alles andere als schuldig: sie hatte sich gegen ihre Vergewaltigung gewehrt und den Täter erstochen. Doch Reyhanehs Fall wird schnell zum Politikum, war doch ein ranghohes Mitglied des iranischen Geheimdienstes involviert. Der Gerichtsprozess verkommt zur Farce, als der ordentliche Richter durch einen Reginetreuen ersetzt wurde. Im Gefängnis erleidet die junge Frau Höllenqualen, während ihre Famille alle Hebel in Bewegung setzt, um die Schwester und Tochter zu retten. Der Fall Reyhaneh, der für weltweites Entsetzen sorgte, ist dabei nur eines von zahllosen Beispielen, wie die Rechte von Frauen vom iranischen Regime missachtet werden. Steffi Niederzoll montiert ihren Film aus aktuellen Interviews mit der Familie und ehemaligen Gefängnisgenossinnen Reyhanehs sowie einer Menge an Handy-Aufnahmen, die aus dem Iran unter Todesgefahr herausgeschmuggelt wurden. Zudem lässt sie Briefe von Reyhaneh aus dem Off vorlesen, in der sie ihre Erlebnisse schildert und ihre Überzeugungen darlegt. Niederzolls Doku vermittelt dabei tiefe Einblicke in das Rechtssystem des Iran, das von westlichen Werten weit entfernt ist. Ein Film, der zugleich zutiefts traurig und wahnsinnig wütend macht.

Dienstag, 06. Juni 2023
Das eiskalte Händchen
Horrorfilme werden uns in den Pressevorführungen leider nur extrem selten gezeigt. Heute war eine Ausnahme

TALK TO ME (1:2.35,5.1)
OT: Talk To Me
Verleih: Capelight Pictures
Land/Jahr: Australien 2022
Regie: Danny Philippou, Michael Philippou
Darsteller: Sophie Wilde, Miranda Otto, Alexandra Jensen, Joe Bird
Kinostart: 27.07.2023

Eine Gruppe von Teenagern gerät in den Besitz einer lebensgroßen Hand aus Keramik, die angeblich eien Brücke ins Jenseits schlagen kann. Was anfangs noch ein Heidenspaß ist, wird schon sehr bald zum blutigen Ernst... Inzwischen ist es fast schon eine gute alte Tradition, dass sich Geschwister bei hrem Einstieg ins Filmgeschäft die Regie bei einem Horrorfilm teilen. Hier sind es Danny und Michael Philippou, die mit TALK TO ME auf bewährten Pfaden wandeln und den Zuschauern ihre Version einer Achterbahnfahrt liefern. Allerdings sind insbesondere Genre-Fans seit dem fulminanten SMILE von solchen Achterbahnfahrten ziemlich verwöhnt. Mit dem Ergebnis, dass TALK TO ME eigentlich nicht mehr als solide B-Ware liefert. Dabei ist der Film souverän inszeniert und zieht alle Register moderner Tontechnik. Alleine die Story vermag nicht ganz zu packen. Sie liefert hier und da einen spannenden Moment, läuft aber im letzten Drittel dann etwas aus dem Ruder. Um die Fans zu beglücken, verzichten die Philippou-Brüder natürlich nicht auf Brutalitäten und lassen das Blut literweise strömen. Es ist sehr scahde, dass die Filmemacher auf derartige Effekte setzen, um ihren Horror zu versprühen anstatt sich wirkliche Gedanken zun einem perfekten Spanungsaufbau zu machen. Für ungeübte Zuschauer im Horrorfach gibt es freilich ein paar ”Scare Jumps”, die erfahrene Horrorfans nicht aus der Reserve locken. Erstere werden also mit dem Film mehr Freude haben als Letztere.
Montag, 05. Juni 2023
Ein starkes Mädchen
In meinem heutigen Double Feature schloss ich Bekanntschaft mit einer toughen jungen Frau und lernte die Zustände in einem Flüchtlingslager kennen

RODEO (1:2.35, 5.1)
OT: Rodéo
Verleih: Plaion Pictures
Land/Jahr: Frankreich 2022
Regie: Lola Quivoron
Darsteller: Julie Ledru, Yannis Lafki, Antonia Buresi
Kinostart: 13.07.2023

Ein echtes Lächeln hat sie nur, wenn sie ein PS-starkes Motorrad zwischen ihren Beinen hat und bis zum Anschlag beschleunigen kann. Dann ist Julie pure Energie. Und grenzenlos frei. Geld hat sie keines, braucht es auch nicht, wie sie selbst betont. Mit ihrem gestohlenen Motorrad versucht sie bei den illegalen ”Rodeo”-Motorradtreffs zu punkten. So gerät sie an die harten Jungs, deren Leben sich um waghalsige Stunts und irre Mutproben dreht. Und das Klauen von Motorrädern. Julie gerät immer tiefer in die Fänge einer gefährlichen Parallelgesellschaft... Endlich gibt es auf der Leinwand mal wieder eine Protagonistin, die genauso hart ausgibt wie sie rangenommen wird: Julie Ledru. Mit ihrer karibikgebräunten Haut und den langen schwarzen Locken repräsentiert sie genau jenen Typ von Frau, um die man sich keine Sorgen machen muss. Die Hübsche weiß ganz genau was sie tut, kennt ihre Ziele und weiß, wie man sie erreicht. Um sie herum inszeniert Lola Quivoron einen PS-starken Mikrokosmos, überlagert das Dröhnen der Motoren mit einem basslastigen, weiträumigen Soundtrack. Ihre Kamera bleibt oft auf den Gesichtern ihrer sehr agilen Darstellerriege und der Schnitt legt ein gewaltiges Tempo vor. Optisch und akustisch wird hier der begrenzende Rahmen der Leinwand gesprengt und reißt den Zuschauer mit in das Geschehen hinein. Quivorons Film fesselt bis zur letzten Minute und liefert damit den Beweis, dass das Kino noch längst nicht jede Geschichte erzählt hat.

PICKNICK IN MORIA – BLUE RED DEPORT (1:1.78, 5.1)
Verleih: Farbfilm Verleih
Land/Jahr: Deutschland 2022
Regie: Linda Luþytë
Kinostart: 08.06.2023

Einst war das Auffanglager in Moria auf der griechischen Insel Lesbos für 2500 Flüchtlinge gedacht, doch inzwischen leben dort 13000 Asylsuchende. Europa weigert sich seit 2020 weitere Geflüchtete aufzunehmen. Die Zustände im überfüllten Lager sind prekär und menschenunwürdig. Die litauische Filmemacherin Linda Luþytë hat sich für ihren Dokumentarfilm das Schicksal des afghanischen Künstlers Talibshah Hosini herausgepickt, der jetzt seit acht Mon aten mit seiner Frau und den drei Kindern in Moria lebt. Um allen Geflüchteten eine Stimme zu geben und die Missstände im Lager sowie der undurchschaubaren Asylprozedur aufzuzeigen, entschloss sich Hosini, einen Spielfilm darüber zu machen. Mit einfachsten Mitteln und unter Mithilfe anderer Flüchtlinge arbeitet er an seinem Projekt. Luþytës Kamera beobachtet ihn dabei unkommentiert, lässt ihn und andere Flüchtlinge offen über die Situation sprechen. Dabei wird schnell klar, dass die unerträgliche Situation langsam aber sicher die Nerven aller blank liegen lässt. Verzweifkung und Wut bricht sich immer wieder Bahn, doch die Arbeit am Film gibt Hosini und seinen Mitstreitern auch immer wieder Halt. Luþytës Film ist bedrückend und macht den Zuschauenden fassungslos. Unglaublich, was hier mitten in Europa passiert. Die Politik hat versagt, die Menschen bleiben auf der Strecke. Immerhin gelingt es de Künstler, seinen Film zu vollenden und ihn im Lager zu zeigen. Man ist sich einig, dass Hosini damit den Nagel auf den Kopf trifft. Bleibt zu hoffen, dass sein Film ”Picknick in Moria” den Weg in die Filmfestivals finden wird.

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